Dora hat hunderte von Gedichten geschrieben, das Schreiben entströmte ihrem Alltag. Im Titelgedicht zu einem Band von 1984 hat sie diese Haltung charakterisiert:
– Mein Theater
kein Vorhang
keine Knickse
keine Souffleuse
nur
ein Sprung
in die Welt.
(Nur ein Sprung in die Welt, 1984, 5)
Im Folgenden präsentieren wir eine kleine Auswahl, zuerst aus veröffentlichten Gedichtbänden, zum Schluss bislang unveröffentlichte Texte.
Schon im Band Winkender Mond wir kommen (1982) finden sich zwei Gedichte, die die Pole ihres Gemütszustands charakterisieren, zwischen überwältigendem Schmerz und ungebärdiger Liebe.
– Mein kümmerliches Ich
ein flatterndes Fragezeichen
zwischen aufgerissenen
Mäulern
wollen sie mich verschlingen.
Schnauze.
So krümm ich mich weiter
unter den Krämpfen
eines wahnsinnigen Weltschmerzes
den ich endlich vergessen möchte
der sich auflösen sollte
in einen einzigen Sonnenstrahl.
(Winkender Mond wir kommen, 1982, 49)
– Mein schönstes Gedicht
Deine Zärtlichkeiten
zusammengereimt
es liegt zwischen den Felsen
unter nordischem Licht
wo die Möwen
unzensurierte Schreie
in den Himmel fliegen.
(Winkender Mond, 119)
Andere Gedichte zeigen ihren satirischen Witz, den sie auch in jeden Gedichten behielt, die sich mit grossen Themen beschäftigten; das erste Gedicht über die Lüge von 1982 ist ja schon beinahe prophetisch.
– Kann sein dass
morgen schon
eine Lüge über
einen Kanister
stolpert und
aus den Flammen
die Stimme des
Poeten sagt:
Mir tut die
Hitze nichts zur Sache
die Kälte wars.
(Winkender Mond, 9)
– Ein Löwe
hat mir zugeflüstert
der Mensch sei
das grösste Ungeziefer
im Urwald.
Ich habe ihn getröstet,
sei froh
dass Du kein Gärtner bist
sonst hättest Du
Tag- und Nachtschicht.
(Winkender Mond, 39
– Endlich
Endlich fand ich
in der Zeitung
etwas Wahres.
Leider zu später
(Winkender Mond, 55)
– Hastig
fliehen
unsere Zweifel
an
Gottes Macht
ins
nächste Labor.
(Nur ein Sprung in die Welt, 1984, 16)
Die Natur war ihr bekanntlich wichtig, Tiere tauchen immer wieder als Rettung in der Gefährdung auf.
– Sehnsucht schwebt
über die Dächer
der Altstadt
kriecht unbemerkt
durch einen Kamin
setzt sich fest
auf Herzen
die in Monatsraten
durch das Jahr schlagen
Glocken verkünden
den Mietzins
das Kleinkind
im Hochzeitskleid
wimmert goldene Stunden.
Nur der Seidelbast
hört der Amsel zu.
(Nur ein Sprung, 67)
– Was Schmerz ist weiss ich und was Glück ist
ahne ich:
Es liegt dazwischen.
Ich bin nie auf diese Welt gekommen
ich habe sie nur eingeatmet
viele Düfte sind mir vertraut
manchmal berauschen sie mich.
Nur manchmal
so wie gestern
als das Meer weit über
die Watt hinaus spuckte
eine Prise Salz
hätte genügt um zu bleiben.
(Zeitblut, 1987, 37)
– Gestern lernte ich Gnade kennen
sie lief an mir vorbei
schielte nach rechts und links
bevor sie mich grüsste
es sei meine Heimat sagte
mein Blick auf ihr Revers.
Oh, ich wusste nicht
dass Fahnen erröten können
bei diesen Waschanlagen.
(Zeitblut, 32)
Durchaus selbstbewusst hat sie sich gelegentlich mit andern Schriftstellern und Lyrikerinnen verglichen:
– Werden Sie mein Freund
lesen Sie Arno Schmidt
werden Sie mein Verbündeter
überdenken Sie Benn
aber wenn Sie um alles in der Welt
mein Feind sein wollen
dann haben Sie Rose Ausländer
nie beachtet.
Werden Sie mein Geliebter
kriechen Sie in den Mond
und grüssen Sie mir
den Prinzen Jussuf.
Bald
seien Sie versichert
fliege ich Ihnen nach
Ihr Flügel und Flossen
Ihr Krallenungetüm.
(Zeitblut, 5)
– An Rose Ausländer
Rose Du
Spross
blutgetränkter Erde
zieh Deinen Dorn
aus unserm Fleisch
wer Schuld an Deinem Leid
mög untergehen
doch wir die blühen Deinesgleichen
lass tauen wenn die Dürre droht
Rose Du
wie Wolkenbruch ist Dein Gehabe
an Deinem Bett
blaurotes Schweigen
der Liebe weisser Biss
und ferner Schnee
Rose aus –
Jetzt nur noch Länder
im Abendlicht.
(Zeitblut, 8)
– Auf dem Weg
durch die Bibliothek
ungeschriebener Bücher
hab ich sie gefunden
Heimat
Fliederstädte
Mohndörfer
und Geister
in Akeleigewändern
pfaffenlos
warm wintern würd ich dort
was ist geschehn
ein schmales Bändchen
hab ich angefasst
es sah beschämt zur Seite
nicht doch
ich hab Dich längst gelesen
nur sagen möcht ich Dir
wie gut Du bist
denn Deine Stille
hat ein Glück geboren
das keine Windeln braucht
und Toren.
(Zeitblut, 24)
– Ein Wort das fliessen wollte zu einem Roman
ist ein totes Kind
niemand wollte sehen, wie ich es zu Grabe trage.
Nun, was erwarten Sie von einer versteinerten Poetin?
Dachten Sie nie daran, wie es sein würde nach der Glut?
Sahen Sie schon eine Statue, die im Frühling blühte
oder wie einer solchen im Winter vor lauter Kälte die Nase tropfte?
Stein ist Stein
oder möchten Sie das Risiko eingehen
dass ein letzter Schrei an Sie
mein ganzes Wesen zu einer Geröllhalde verwandelt
auf der sich in Zukunft alle Neugierigen
die Knöchel brechen?
Denn verflucht sei jede Seele, die meine Sprachquelle
verschüttet hat
und verflucht sei alles, jede und jeder
die einer Kämpferin den Atem rauben.
Sie Geflohener in London
gehen Sie nicht nach draussen
so sprechen die unsichtbaren Schwerter
sie werden entkrönen und enthaupten, was Leid schuf.
Ich selbst ernte nur noch mit einer Sichel
ob sie je wieder mondet, überlasse ich
der verborgenen Sonne.
(Die kleine Schweizerin, 1989)
Sie hat eindrückliche Bilder geschaffen, mühelos vom Hochfliegenden ins ganz Handfeste wechselnd.
– Die ganze Welt
sollte
ein Vogel sein
dann wäre der Flug
ins Jenseits
gegen die Himmel.
So aber
habe ich gestern gedacht
sind wir einst
eine
abgestürzte
geballte Faust.
(Nur ein Sprung in die Welt, 1984, 35)
– Aus der Gruft menschlichen Versagens
hallen Echos wehmütiger Lieder
donnert das Leid um die Wette
blitzen Millionen Kinderaugen im Smog
spannt die Angst den Bogen zum Abschuss
aller Lebewesen
verbleibt die Liebe.
(Orchideen und darnach, 1988, 84)
– Schweizerleichen
unterscheiden sich nicht voneinander
wenn man von den Ausweisen in ihren Taschen absieht
sie knirschen mit den Zähnen
grüssen nicht
und wenn sie es tun müssen
kriegen sie Blasen an den Füssen.
(Den Morgen bestimmen die Hähne, 1985, nur teilweise veröffentlicht)
Letzteres zeigt, sie war auch eine Meisterin aphoristischer Zuspitzungen. Hier eine Auswahl aus dem Band Die kleine Schweizerin von 1989.
Ich dachte
ich hätte die Sprache verloren
Ich dachte zuviel
Wer ein goldenes Kalb verspeist
wird niemals satt
Der Dreck an mir
stammt von euren Füssen
Hass trinkt mehr Wein
als es Trauben gibt
Wenn ich meckere
bin ich keine Ziege
sondern einfach eine Frau
die sich noch
tierisch ausdrücken kann
Auch Splitter wissen um ihre Herkunft
Den Hund gabs vor der Leine …
Dann wieder hat sie die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person und die persönliche Situation in ein paar Sätze gefasst.
In Paris rufen sie mir zu
voilà la petite Suissesse.
In Berlin sagt man
die Kleene aus der Schweiz.
In Wien bin ich
das Schweizerdirndl.
Und in der Schweiz sagen sie:
He! Du altes Gewehr, mach mal Platz
und ich erwidere ganz stolz:
Na, wenn ihrs schon wisst
warum so unvorsichtig?
(Die kleine Schweizerin, 1989)
In den 1990er Jahren schrieb Dora eher Prosa, in den Nullerjahren stiessen ihr dann grosse Liebesgeschichten zu, die sie etwa in Merde. Gedichte einer merkwürdigen Liebe, von 2003 verarbeitet hat. Der Band besteht mehrheitlich aus längeren Prosagedichten, direkt dieser verheerenden Liebe nacherzählt. Daraus sei nur das stärker geformte Einleitungsgedicht zitiert.
– Müde der gemeinsamen Strapazen
aber feurig genug
mit neuen Schuhen
die Wege abzulaufen
auf denen wir den Schmerz entdeckten
Hand in Hand die Wahrheit drückten
Du öfters schweissgebadet
in Deinen Jagdtrieben
und ich frierend in meinen Träumen
wenn deine Blicke beleuchtete Fenster
öffneten
während ich vergass, meine Fans zu grüssen.
So erstarrt lief ich mit Dir ins Ungewisse
an einem Wegrand noch der verwunderte Mohn
entblättert und verschwiegen.
(Merde, 2003, 4)
Um 2008 herum gab es dann wieder einen neuen Kreativitätsschub. Hier zum Abschluss ein paar bislang unveröffentlichte Gedichte:
– Barbara
Du warst ein schöner Apfel
ich habe Dich aufgefressen
und die Schönheit ist weg.
Manchmal erinnere ich mich
an Äpfel, die ich nicht
gefressen habe
auch sie sind nicht mehr
aber die Kirschen an meinem Ohr
damals barfüssig und unwissend
vertraute ich ihrer Süsse
heute noch und jeden Frühling
und jedem Sonnenstrahl.
– Jetzt im Krisenherbst
da nur noch farblose Blätter
von den Lehman-Bäumen fallen
und beim Erntedankfest der Abzocker
weiterhin windige Ansprüche
durch die Luft wirbeln
und ein hämisches Lächeln
der Sanierten
im Gespräch über Lebenskünstler
die Börsen erbeben lässt
jetzt, gerade jetzt
verwette ich ein Gramm Liebe
gegen ein Kilo Sprengstoff
und lege es auf die Drehbank
des erzürnten Volkes.
Über diesem Altar der Arbeit
fällt heftiger Regen
und lässt die Geprellten gewinnen
mit der Einsicht
dass jeder Regentropfen
unsere Vergangenheit widerspiegelt
29.10.2008
– Das Wort Freiheit
Heut in der Früh
schnellte das Wort Freiheit
von deinen Lippen
wie ein Boot
welches eben
entkettet wurde.
Als Lebensmatrose
selbst am Steuer
selbstbewusst
ohne Vorurteile
den verschiedenen Winden
gegenüber
umspülen dich
gut gesinnte Wasser.
Eins sein
mit den Elementen
ist dir gegeben
so etwas macht die Runde
bei Mensch und Tier.
Nicht mal die Eule
würde ihre Augen schliessen
bei deinem Anblick
im Gegenteil
blinzeln würde sie
und Flatterzeichen geben:
«gut so, Junge»
bleibe bei deinen Ansichten
niemand kann die Wolken
am Himmel verschieben
oder wilde Wasser stoppen.
Auch du hast das längst erkannt
nur deshalb
sind die Selbstbefreiten
ihrer Freunde sicher.
4. 8. 2009
Ganz zum Schluss eines, das in seiner bruchstückhaften Sprache schon beinahe menschheitsgeschichtliche Zustände beschreibt.
– Weit über Mitternacht
mitten im ausgelassenen
Rummel stand ich
neben jemandem, dem ich ein
Wort abverlangte.
Fremdsein
ein verschwiegener
Selbstschutz
Flucht und Angst
vor der Realität
dem Vor- und Nachmenschen
Asche –
Fremdwalzer
Solotanz
mitten unter
ausgelassenen Paaren.
Nur keine Berührung
von dem Nichts
im Nadelstreifenanzug.
Fremdbrot
bedächtig gekaut
vom verbleibenden Affen in mir
ach ja
das Primatengedächtnis
wie ein Warnsignal
immer präsent
beim Überlebenskampf.
Fremdsein
der Reststolz
einer blauen Zelle
damals ausgespuckt
von einer Brandung
am Kapp der Neugierde.